Trauer in der Kinderwunschzeit

Trauer in der Kinderwunschzeit

Viele Menschen verbinden Trauer mit dem Tod. Jemand ist gestorben, und ich trauere um den Verstorbenen – oder auch nicht. Doch Trauergefühle treten nicht nur in diesem Fall auf. Sie kommen bei Verlusten aller Art: eine Beziehung geht in die Brüche, Kinder ziehen aus, man verliert seinen Job oder muss ihn wechseln – um nur einige zu nennen.

Denn nicht nur Menschen können sterben und uns fehlen, genauso Hoffnungen, Wünsche und Beziehungen. Unser Leben unterliegt stetiger Veränderung. Was gestern noch sicher schien, ist heute schon zweifelhaft. Die Konstanz nimmt ab. Trauer findet sich deshalb auch außerhalb des Sterbens, bei Veränderungen jeglicher Art: bei Umstrukturierungen im Job, bei einem Umzug in eine neue Stadt oder auch, wenn auf meinem Lieblingsfleckchen Natur plötzlich ein Neubau entsteht.

Genauso hast du es mit Trauer zu tun, wenn du dich „nur“ von einer Vorstellung verabschieden musst. Gerade in der Kinderwunschzeit passiert das regelmäßig. Mit jeder Regelblutung, mit jedem Negativ stirbt gefühlt dein Baby. Wenn dann noch Fehlgeburten dazukommen, kann es richtig schlimm für dich werden, denn zum Verlust kommt noch die Angst davor, dass es auch später wieder schiefgehen könnte. Trauer ist genauso da, wenn du dich vom Kinderwunsch ganz verabschieden musst.

 

Trauer ist …

Trauer, wie wir sie heute verstehen, ein emotionaler Zustand. Ein Gefühl. Ein seelischer Schmerz. Wir sind zornig, fassungslos, ohnmächtig, wütend oder auch betäubt. Etwas hat sich verändert, dass sich unserem Einfluss entzieht. Genau das passiert, wenn du nicht schwanger wirst oder die Schwangerschaft nicht hält. Da ist etwas, was du nicht verändern kannst, mit dem du dich abfinden sollst. Aber wie oft schreit alles in dir: „Ich will das nicht!“ oder „Das muss doch klappen!“

Ob die Situation ,wie beim Tod eines geliebten Menschen, real besteht oder es sich nur um den Verlust einer Erwartung, wie zum Beispiel beim unerfüllten Kinderwunsch, handelt, ist für das Empfinden von Trauer völlig egal. Die Situation sagt nichts darüber aus, wie tiefgreifend dein Schmerz ist. Auch spielt es keine Rolle, ob deine Mitmenschen deine Trauer nachvollziehen können. Deine Trauer ist genauso individuell wie du.

Trauer ist auch nicht miteinander vergleichbar, denn jeder Mensch fühlt anders. Je nachdem, welche Erfahrungen er in seinem bisherigen Leben gemacht hat. Oder welche Emotionen er in sich trägt. Dieselbe Situation kann für den einen schmerzhaft sein, für den anderen nicht oder nicht in dem Maße.

Trauerprozesse können Jahre dauern. Manche Menschen kommen z.B. nie über den Verlust einer Schwangerschaft oder den unerfüllten Kinderwunsch hinweg. Andere wiederum passen sich recht schnell an die neuen Verhältnisse an. Das bedeutet aber nicht, dass die einen richtig und du vielleicht falsch trauerst. In der Trauer gibt es kein Richtig und kein Falsch, sondern nur deine persönliche Trauer.

 

Trauer versteckt sich oft

Viele Menschen bringen Trauer nur mit dem Tod in Verbindung. Gerade beim unerfüllten Kinderwunsch kommt es oft dazu, dass Trauer verneint wird. Stattdessen sind sie

  • verzweifelt, weil sich keine Schwangerschaft einstellen will,
  • wütend, weil eine kinderreiche Familie in der Nachbarschaft noch ein Kind bekommt,
  • sauer auf ihre Freundin, die sich darüber beschwert, wie furchtbar anstrengend ihre Kinder sind und du doch froh sein kannst, keine zu haben,
  • erbost darüber, dass die Kosten für eine künstliche Befruchtung weiter steigen.

Hinter all diesen Gefühlen steckt die Trauer: darum, dass die Familie, die du dir erträumt hast, so nicht zu Stande gekommen ist. Oder dass du keine Schwangerschaft erleben darfst, obwohl es offensichtlich bei „allen anderen“ so einfach geht. Ich möchte dir Mut machen, in Situationen, die mit Wut und Verzweiflung, aber auch Antriebslosigkeit und Ohnmacht verbunden sind, genauer hinzuschauen. Warum bist du gerade wütend? Was hast du verloren und was fehlt dir jetzt?

Es kann hilfreich sein, diese versteckte Trauer hervorzuholen und ihr Platz und Raum zu geben. Trauer ist aus meiner Sicht ein wichtiger Bestandteil eines Veränderungsprozesses. Solange ich nicht um das, was war (zum Beispiel nach einer Fehlgeburt), oder das, was ich mir gewünscht habe, trauere, unterdrücke ich die Trauer nur. Sicher kann ich irgendwie weitermachen, aber sie wird sich irgendwann wieder bemerkbar machen. Außerdem wird es so schwerer für dich, dich auf die veränderte Situation einzulassen.

 

Warum wir uns so schwer damit tun, Trauer auch woanders zu sehen

Noch vor einigen Jahrzehnten waren Trauer und Trauerprozess dem Tod vorbehalten. Wenn jemand starb, wurde getrauert. Es war eher eine Zeitspanne. Es gab zum Beispiel das Trauerjahr, in dem schwarz getragen wurde. Danach war die Trauerzeit offiziell vorbei. Gefühle spielten dabei nur eine untergeordnete Rolle. Es wurde getrauert, auch wenn man den Verstorbenen vielleicht gar nicht leiden konnte. Das „gehörte sich so“.

Da die Menschheitsgeschichte bis vor wenigen Jahrzehnten auch in Deutschland von immer wiederkehrenden Kriegs- und Hungerzeiten geprägt war, war für Trauer über den Todesfall hinaus kein Platz. Menschen starben oft jung, viele noch im Säuglings- und Kleinkindalter. Fehl- und Todgeburten waren an der Tagesordnung. Der Tod war allgegenwärtig. Geburt und Tod bestimmten vielmals das Leben.

Das änderte sich erst mit der Verbesserung der medizinischen Versorgung. Viele Krankheiten, die früher einem Todesurteil gleichkamen, sind heute behandelbar. Gerade die gute medizinische Versorgung und die Fortschritte in der Reproduktionsmedizin vermitteln oft den Eindruck, dass – wenn es schon nicht auf natürlichem Wege klappt – es mithilfe von Ärzten ganz einfach ist, schwanger zu werden.

Doch ,dass gerade letzteres so nicht stimmt, stellen regelmäßig viele Frauen und Paare fest. Versuch um Versuch schlägt fehl. Denn es gibt zwar eine Chance auf eine Schwangerschaft durch künstliche Befruchtung, aber keine Garantie. Und selbst wenn eine Schwangerschaft eintritt, so besteht weiterhin das Risiko einer Fehl- oder Frühgeburt. Dieses Risiko ist bei Schwangerschaften nach künstlichen Befruchtungen sogar erhöht.

 

Wie kann ich mit Trauer umgehen?

Ein erster Schritt zum Umgang mit der Trauer bei unerfülltem Kinderwunsch ist aus meiner Sicht, sie anzuerkennen. Sie ist da. Hier in dir. Vielleicht fragst du dich, worum du trauerst. Was hast du verloren? Was war vorher da und ist jetzt weg? Neben der Trauer um ein verlorenes Baby kann das auch die Hoffnung auf ein Leben mit einem eigenen Kind sein. Oder um deine Vorstellung von Familie. All das kann dich aus der Bahn werfen. Ob andere Menschen das ebenso fühlen, spielt für deine Trauer keine Rolle.

Deine Trauer will von dir gesehen werden. Schau sie dir an. Welche Gefühle löst sie in dir aus? Wenn es dir möglich ist, dann lass sie da sein. Du kannst dir hierfür auch Unterstützung durch eine gute Freundin oder eine Therapeutin holen. Gerade, wenn du den Eindruck hast, dass deine Gefühle dich überwältigen könnten oder du über längere Zeit gar nichts mehr fühlen kannst, ist Hilfe von außen zu empfehlen. Du musst da nicht allein durch.

Gib dir Zeit. Es gibt keine feste Zeit, nach der du „zu Ende getrauert“ oder dich von deinem Kinderwunsch verabschiedet haben musst. Das ist bei jeder Frau/jedem Paar und auch je nach dem, wie deine Kinderwunschzeit verlaufen ist, unterschiedlich. Du wirst spüren, wann es dir besser geht. Auch wenn es Jahre dauert – niemand hat das Recht dir zu sagen, dass es nun aber mal genug ist. Du darfst so lange trauern, wie du es brauchst.

Verzweifle nicht, wenn du den Eindruck hast, dass es nicht vorwärts geht oder es Rückschläge gibt. Trauerprozesse verlaufen gerade auch bei unerfülltem Kinderwunsch nicht linear. Schwangerschaften im Umfeld können alles wieder aufbrechen lassen. So wird es immer wieder gute oder auch schlechte Tage geben. Ich wünsche dir alles Gute für diese Zeit.

Achte auf dich.

Ein Perspektivwechsel kann Räume öffnen

Ein Perspektivwechsel kann Räume öffnen

Heute möchte ich dich zu einem Perspektivwechsel einladen. Jeder Verlust und jedes Unglück in deinem Leben, egal, wie schlimm sie sind, ermöglichen dir auch eine Neuorientierung oder Weiterentwicklung. Auch beim unerfüllten Kinderwunsch ist das so. Irgendwann kommt vielleicht der Punkt, an dem du erkennen musst, dass du nie ein Kind haben wirst. Du kannst dein Leben dann nicht mehr auf dieses Ziel ausrichten.

Oftmals ist gerade auch in der Kinderwunschzeit unser Blick sehr eingeengt. Wir sehen nur das Schlimme: das Kind, das wir nicht haben können. Wir merken an allen Ecken und Enden, das es fehlt. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, in der wir daran erinnert werden, was wir nicht haben, zieht es uns tiefer nach unten. Wir wollen, dass der Schmerz und die Verzweiflung darüber weggehen. Doch das tun sie nicht. Sie bohren weiter, so dass es uns immer schlechter geht und wir nicht mehr wissen, wie wir aus dieser Abwärtsspirale herauskommen.

Hier kann ein Perspektivwechsel helfen. Du kannst dich fragen, welche Chancen sich für dich aus der veränderten Situation ergeben. Das mag sich im ersten Moment erschreckend anhören, weil das impliziert, dass du dich daran freuen könntest, dass du kein Kind bekommst. Doch das ist nicht der Sinn des Perspektivwechsels. Eher geht es um die Entdeckung der Dinge, die daneben noch in deinem Leben stattfinden könnten. Die Antworten auf diese Fragen lassen deine Trauer um deinen unerfüllten Kinderwunsch nicht verschwinden, aber sie können Räume für dich öffnen, um dein Leben während und nach der Kinderwunschzeit neu zu gestalten.

 

Der Tunnelblick in der Kinderwunschzeit

Ein unerfüllter Kinderwunsch hat die Tendenz, uns aus unserem gewohnten Leben zu reißen. Er zieht uns oftmals in eine Abwärtsspirale negativer Gefühle. Schmerz, Ohnmacht, Hilflosigkeit, Verzweiflung – alles legt sich übereinander und beschwert uns. Wir fühlen uns schwach und unfähig. Die Gedanken drehen sich im Kreis. Unser Blick wird zum Tunnelblick. Er schränkt uns ein. Wir sehen vielmals nur das, was wir nicht haben können.

Wenn du tief im (erfolglosen) Kinderwunschprozess bist, laufen dir ständig glückliche, schwangere Frauen oder Mütter mit Babys und Kleinkindern über den Weg. Sie alle haben, was du nicht hast, und das tut weh. Dieser Schmerz zieht dich weiter nach unten. Immer wieder zeigt er dir, was du nicht hast, nicht kannst, nicht schaffst. Dein Selbstwertgefühl befindet sich im Sturzflug, den scheinbar nichts aufhalten kann.

Dazu kommt das Gedankenkarussell. Warum ich? Warum passiert das mir? Wieso klappt es bei mir nicht? Ich mache doch schon alles dafür. Ich ernähre mich gesund, mache Sport usw. usf. Alles kreiselt wie wild durcheinander und immer wieder um die selben Themen. Du willst es stoppen, doch irgendwie klappt es nicht. Vielleicht kurzfristig, aber nicht auf Dauer. Gerade, wenn du allein mit dir und deinen Gedanken bist, kommen sie hoch.

 

Ein Perspektivwechsel als Gegenstück zur Abwärtsspirale

Um aus dieser Ohnmacht und Handlungsunfähigkeit herauszukommen, kann dir ein Perspektivwechsel helfen. Perspektivwechsel heißt zu überlegen, welche Möglichkeiten sich für dich aus dieser veränderten, ungewünschten Situation ergeben. Denn jede Situation hat immer zwei Seiten, auch in guten Zeiten. Wenn du zum Beispiel einen neuen, interessanten Job in einer fremden Stadt annimmst, lässt du dein bisheriges vertrautes Umfeld zurück.

Genauso ist es in schlechten Zeiten wie beim unerfüllten Kinderwunsch. Auch hier gibt es – auch wenn dies auf den ersten Blick nicht immer erkennbar ist –eine andere Seite. Es ergeben sich neue Möglichkeiten. Das heißt nicht, dass du dich über das, was passiert ist, freuen sollst. Ein unerfüllter Kinderwunsch bleibt ein unerfüllter Kinderwunsch und du darfst solange und so tief darum trauern, wie du es brauchst. Trotzdem möchte ich dich einladen, dich zu fragen, welche Chancen sich daraus, dass dein Kinderwunsch sich nicht erfüllt hat, für dich ergeben.

Wenn du zum Beispiel viele Termine in einer Kinderwunschklinik hattest, die deinen Terminplan bestimmt haben, so kann dir eine Pause in oder die Beendigung der Behandlungen die Möglichkeit geben, etwas Neues zu beginnen. Du musst nicht mehr schauen, ob deine Ideen gerade mit den fruchtbaren Tagen passen. Diese dir jetzt zur Verfügung stehende Zeit kannst du für die Dinge nutzen, die bislang liegen geblieben sind oder die du dir nicht erlaubt hast, weil du vielleicht auf keinen Fall eine Möglichkeit zur Schwangerschaft verpassen wolltest.

Eine weitere aus meiner Sicht wichtige Frage ist diejenige danach, was du aus der Situation, in der du dich befindest, lernen kannst. Vielleicht gibt dir der unerfüllte Kinderwunsch die Möglichkeit darüber nachzudenken, ob dein Leistungs- und Perfektionsanspruch jetzt noch zu deinem Leben passt. Denn gerade das Schwangerwerden hat nichts mit Leistung oder Belohnung zu tun. Ansonsten würde es nicht bei so vielen Frauen nicht klappen, obwohl sie alles für eine Schwangerschaft und ein Kind tun.

 

Dinge, an denen du wachsen kannst

Wenn du noch einen Schritt weiter gehen möchtest, kannst du überlegen, was du noch nie in deinem Leben gemacht hast. Bestimmt finden sich Dinge, die du – aus welchen Gründen auch immer – noch nie getan hast. Vielleicht, weil du bislang keine Zeit dafür hattest. Vielleicht, weil du dich bisher vor ihnen gescheut hast. Oder weil du glaubtest, das könntest du sowieso nicht. Womöglich sind sie dir aber auch einfach noch nie in den Sinn gekommen.

Premieren geben uns die Möglichkeit zu wachsen, unser Leben auch in schlechten Tagen neu zu entdecken. Vielleicht warst du noch nie am Meer. Dann wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, dorthin zu reisen. Vielleicht hast du noch nie ein Instrument gelernt. Dann fange jetzt damit an. Schick den inneren Schweinehund in die Ferien, der dir sagt, dass du gerade jetzt dafür keine Zeit hast und das Ganze sowieso keinen Sinn hat.

Dabei spielt es keine Rolle, ob du für all diese Dinge Talent hast. Talent wird oftmals überbewertet. Die meisten Dinge lernen wir nicht durch Talent, sondern durch Ausprobieren und Fleiß. Wenn du nicht ausdauernd übst, wird selbst mit dem größten Talent aus dir kein Klaviervirtuose. Außerdem erwartet niemand von dir, dass du zum Beispiel mit 43 Jahren bei „Jugend musiziert“ noch Preisträger wirst. Aber vielleicht stellst du ja überrascht fest, dass es dir Spaß macht zu musizieren.

 

Ein Brainstorming zur Ideenfindung

Dir fällt nichts ein? Dann nimm dir einfach ein Blatt Papier und einen Stift. Schreibe ganz oben: „Ich habe/bin noch nie …“. Stell dir einen Wecker auf zehn Minuten und schreibe in einfach drauf los, was dir in den Sinn kommt. Frage nicht danach, ob das, was du aufgeschrieben hast, überhaupt realisierbar oder sinnvoll ist. Fällt dir gerade gar nichts ein, dann ziehe einfach eine Wellenlinie. Setze den Stift möglichst nicht ab. Schreibe solange, bis die Zeit abgelaufen ist.

Wenn die Zeit um ist, lies dir dein Geschriebenes durch. Welche Punkte springen dich an? Was davon ist vielleicht sogar kurzfristig und ohne viele Umstände umsetzbar? Dieses unbewusste Schreiben bringt oftmals unsere Wünsche und Gedanken besser zum Ausdruck, als wenn wir lange darüber grübeln und ständig das Für und Wider abwägen. Beim unbewussten Schreiben hat der innere Kritiker Sendepause, so dass wir ganz bei uns sind.

Und was ist mit den Wünschen, die überhaupt nicht realisierbar sind, zum Beispiel ein Flug zum Mars? Dann koch dir einfach eine schöne Tasse Tee oder Kaffee und stell dir vor, wie es wäre, wenn du diesen Wunsch realisieren könntest. Du kannst dir diese Reise in allen Facetten ausmalen, mit allen Geräuschen, Gerüchen, Lauten und Empfindungen. Auch Träume können glücklich machen und dir Entlastung bringen.

Achte auf dich.

Ein emotionaler Erste-Hilfe-Kasten für Kinderwunschkrisen

Ein emotionaler Erste-Hilfe-Kasten für Kinderwunschkrisen

Für körperliche Verwundungen und Schmerzen haben wir regelmäßig einen Erste-Hilfe-Kasten zur Hand. Er befindet sich zum Beispiel in deinem Auto. Wenn du an einen Unfallort kommst oder du oder ein Mitfahrer sich verletzt, hast du alle Hilfsmittel dabei, um Erste Hilfe leisten zu können: Pflaster, Verbandsmaterial, Gummihandschuhe, eine Rettungsdecke. Doch wie sieht es in seelischen Krisen, wie dem unerfüllten Kinderwunsch aus?

Wenn es uns seelisch schlecht geht, fehlt uns oft die Erste Hilfe. Dabei benötigen seelische Verletzungen genauso eine Wundversorgung wie körperliche. Abhilfe kann hier ein emotionaler Erste-Hilfe-Kasten bringen. Diesen kannst du dir recht einfach selbst schaffen. Du schaust, was dir hilft, wenn es dir nicht gut geht. Das kann ein heißes Bad sein. Oder eine große Tafel Schokolade. Einige schwören auf Joggen. Wichtig ist nur, dass es dir Entlastung bringt.

Um den emotionalen Erste-Hilfe-Kasten immer parat zu haben, empfehle ich dir, dich in einer ruhigen halben Stunde einmal hinzusetzen und zu überlegen, was dir bislang in Stresssituationen oder Krisen geholfen hat, dich zu stabilisieren. Du kannst dich fragen: Was lässt mich aufatmen? Wobei kann ich zu mir kommen? Schreibe es auf, lege es dir an einen guten Ort, damit du sie bei Bedarf immer zur Hand hast.

 

Erste Hilfe für Notlagen

Jeder hat einen im Auto, viele auch einen zu Hause: den Erste-Hilfe-Kasten. Der eine oder andere besucht regelmäßig einen Erste-Hilfe-Kurs, um seine Kenntnisse aufzufrischen. Wenn du oder jemand in deinem Umfeld dann verletzt ist, kannst du gut und sicher helfen. Pflaster, Verbandsmaterial, Schere, Gummihandschuhe – alles ist schnell zur Hand. Soweit zu den physischen Verletzungen.

Doch wie sieht es bei psychischen Verletzungen aus. In einer seelischen Krise, wie wenn sich dein Kinderwunsch wieder und wieder nicht erfüllt, stehst du oftmals hilflos da und weißt nicht, was du tun solltest. Du bräuchtest ein Pflaster, um deinen seelischen Schmerz zu bedecken. Oder einen Verband, um die Wunde, die das Ausbleiben einer Schwangerschaft oder deren Verlust geschlagen haben, zu verbinden. Doch wo bekommst du die jetzt her?

Normalerweise wissen wir, was uns gut tut. Wenn wir im „Normalmodus“ sind, erinnern wir uns gut daran, was uns unterstützt. In Krisensituationen jedoch vergessen wir diese Dinge oft. Wir fühlen uns überrumpelt, ohnmächtig, kraftlos. Alles ist zu viel. Die einfachsten Dinge, die uns helfen könnten, fallen uns dann nicht mehr ein.

Natürlich kannst du versuchen, deinen Schmerz zu betäuben. Viele Menschen probieren das. Das „Angebot“ dafür ist vielfältig: Alkohol, Beruhigungstabletten, weiche und harte Drogen. Doch unabhängig davon, dass all diese Dinge nicht gut für eine eventuell doch spontan auftretende Schwangerschaft sind, betäuben sie eben nur. Sie übertünchen den Schmerz, die Wunde. Sie helfen aber nicht beim Heilen, sie überdecken die Verletzung nur. Die seelische Wunde darunter bleibt erhalten. Sie schmerzt, sobald die Betäubung nachlässt.

 

Auch seelische Notlagen benötigen eine Erste Hilfe

Was dir stattdessen helfen kann, ist ein emotionaler Erste-Hilfe-Kasten. Einen, der dir in verschiedenen seelischen Notlagen und Krisen – nicht nur beim unerfüllten Kinderwunsch – zuverlässig zur Seite steht. Der dir hilft, den Schmerz, der dich quält, erträglicher zu gestalten, ohne zu betäuben. Der dir deine Handlungsfähigkeit in Zeiten tiefer seelischer Ohnmacht zurückgibt.

Diesen emotionalen Erste-Hilfe-Kasten kannst du nicht kaufen. Aber du kannst ihn dir selbst zusammenstellen. Hinein kommt alles, was dir bisher bei seelischen Tiefs geholfen hat. Nimm dir am besten einen Zettel und eine halbe Stunde Zeit. Schreibe auf, was dir Entlastung bringt. Frage dich: Was hat mir bisher geholfen in schwierigen Situationen? Wenn du bereits schwere Krisen überwunden hast: Was hat mir damals Entlastung gebracht? Werte nicht, schreibe einfach auf.

Wenn du fertig bist, lies dir deine Liste durch. Spüre bei jedem Punkt nach, wie er dir damals geholfen hat. Fühle, ob dir dieser „Verband“ vielleicht auch jetzt weiterhelfen könnte. Merkst du, dass du ruhiger wirst, dein Atem entspannter fließt, bist du auf einem guten Weg. Wenn du dir nicht sicher bist, kannst du die Erste-Hilfe-Maßnahme auch einfach ausprobieren und schauen, ob sie dich jetzt weiterbringt.

 

Was gehört alles in den emotionalen Erste-Hilfe-Kasten?

In den emotionalen Erste-Hilfe-Kasten gehört alles, was dir gut tut. Meiner enthält unter anderem folgende Dinge:

  • ein heißes Bad,
  • auf dem Sofa in eine warme Decke kuscheln,
  • eine Tafel Nussschokolade oder eine Packung Kakaomandeln,
  • ein Waldspaziergang allein,
  • ein gutes Buch lesen,
  • meinen Frust ins Tagebuch schreiben.

Natürlich gibt es viel, viel mehr, was helfen kann. Vieles ist auch vom jeweiligen Gefühl abhängig, welches dich jetzt gerade überrollt. Bei Wut kann ein Boxsack hilfreich sein. Bei Antriebslosigkeit eine heiße Schokolade mit Sahne. Für was auch immer du dich entscheidest – wichtig ist, dass es dir hilft. Lass den inneren Kritiker außen vor, der dir sagt, dass beispielsweise Schokolade dick macht. Oder ein heißes Bad zu viel Energie verbraucht. Hier geht es nur darum, dass es dir gut tut. Dein eventuell vorhandenes schlechtes Gewissen kannst du auch später noch pflegen. In Notlagen und Kristen darf es gern frei haben.

Wie der Begriff „Erste Hilfe“ schon sagt, geht es hier in erster Linie um eine schnelle Hilfe in emotionalen Notlagen und Krisen. Davon unabhängig sind Hilfen und Unterstützung, wenn es dir dauerhaft nicht gut geht. Scheue dich auch hier nicht, dir Unterstützung von außen zu holen. Manchmal braucht es das.

Ich empfehle dir, deinen emotionalen Erste-Hilfe-Kasten an einer gut sichtbaren Stelle zu deponieren. So hast du ihn jederzeit zur Hand, wenn dich zum Beispiel der Schmerz darüber überrollt, dass es wieder nicht geklappt hat, oder du gerade nicht mehr weiter weißt. Er steht dir dann wie auch ein „normaler“ Erste-Hilfe-Kasten im Notfall immer zur Verfügung.

Natürlich kannst du den Inhalt deines Kastens regelmäßig durchsehen und ergänzen. Oder die Dinge herausnehmen, die nicht so gut funktionieren. Es ist dein emotionaler Erste-Hilfe-Kasten. Er soll dir helfen. Damit du auch in der Kinderwunschzeit wieder in ein seelisches Gleichgewicht zurückfindest.

Achte auf dich.

Es ist dein Weg

Es ist dein Weg

Die Zeit des unerfüllten Kinderwunsches ist oftmals steinig und schwer. Und so individuell wie du selbst. Deshalb bringt es nichts, wenn du versuchst, Ratschläge anderer Menschen, die bereits erfolgreich Kinder bekommen oder ihren Kinderwunsch abgeschlossen haben, einfach zu übernehmen. Denn „den“ Weg zum Kind gibt es nicht. Ratschläge können Möglichkeiten aufzeigen, aber auch „Schläge“ sein, bei denen du den Eindruck gewinnst, dass du nicht in Ordnung bist, so wie du deinen Weg gehst.

Du kannst deinen Weg durch die Kinderwunschzeit nur auf deine Art und Weise gehen. Dazu gehört auch dein eigenes Tempo. Ob andere schneller unterwegs sind, ist egal. Die Kinderwunschzeit ist keine Zeit oder Leistung, die absolviert werden muss. Gerade die allgegenwärtige Trauer in der Kinderwunschzeit ist ein Gefühl, das geachtet und durchgearbeitet werden möchte.

Auch ob die Schritte, die du geht, groß oder klein sind, bleibt dir überlassen. Du kannst nur die Schritte machen, für die du Kraft hast. Geh in deinem Tempo mit deinen Schritten. Gern auch mit Begleitung, aber du bestimmst, wohin und wie schnell. Denn nur du kannst deinen Weg gehen. Er muss für niemanden außer dich passen. Ob andere deinen Weg für einen Um- oder Irrweg halten, spielt dabei überhaupt keine Rolle.

 

Es ist dein Weg

Wie oft hast du schon in diesen oder jenen Lebenslagen von anderen Menschen Ratschläge erhalten: Tue dies und es wird dir besser gehen. Mach es lieber so, das funktioniert auf jeden Fall. In der Kinderwunschzeit ist das nicht anders. Wenn deine Mitmenschen deinen erfolglosen Bemühungen um ein Kind nicht gerade hilflos gegenüberstehen, geben sie dir gern Ratschläge, wie du dies oder jenes tun sollst, damit es endlich klappt.

Es ist schon erstaunlich, was gerade in der Kinderwunschzeit an Ratschlägen auf dich einprasseln kann: „Iss nur noch dieses oder jenes, auf gar keinen Fall etwas anderes.“ „Fahr in den Urlaub, dann wird das schon.“ „Du musst nur lang genug warten.“ „Da bleibt nur eine künstliche Befruchtung, je eher, desto besser.“ „Lass den ganzen medizinischen Kram und adoptiere lieber. Es gibt so viele Kinder, die ein schönes Zuhause brauchen.“ Bestimmt fallen dir noch mehr ein.

Doch nur weil bei deiner Freundin dieses oder jenes funktioniert hat, um schwanger zu werden, muss das nicht auch bei dir der Fall sein. Auch Dinge, die bei deiner Nachbarin funktioniert haben, müssen dir nicht helfen. Denn dein Kinderwunsch ist persönlich, er betrifft dich und eventuell noch deinen Partner. Deshalb kann auch dein Kinderwunschweg nur dein persönlicher sein. Vielleicht wird auch der eine oder andere Irrweg dabei sein. Ich zum Beispiel musste für mich den „Umweg“ über die künstlichen Befruchtungen gehen, bevor ich mir eine Adoption zutraute.

Wichtig erscheint mir, dass du dabei immer schaust, was dir außerhalb des Kinderwunsches guttut. Wenn es dir hilft, jeden Tag im Wald spazieren zu gehen, dann tue es. Wenn du dabei jedoch immer an einem Kinderspielplatz vorbeimusst und dich das jedes Mal aus dem Gleichgewicht wirft, dann schaue, ob es dir besser tut, im Moment einen anderen Weg zu gehen, um den Anblick zu vermeiden. Vielleicht wird es später wieder gehen, doch dann kannst du immer noch neu entscheiden.

 

Gehe deinen Kinderwunschweg in deinem eigenen Tempo

Genauso wie dein Kinderwunschweg individuell ist, so ist es auch mit dem Tempo. Die eine braucht mehr Zeit, die andere weniger. Manch eine probiert erst in Ruhe alle alternativen Methoden aus, bevor sie eventuell bereit für medizinische Lösungen ist. Andere gehen sofort den medizinischen Weg und schöpfen zügig alle Möglichkeiten aus. Auch die Entscheidung darüber, ob und wann du überhaupt medizinische Unterstützung möchtest, sollte bei dir bleiben.

Lass dich bitte in dieser Zeit auch nicht von der „biologischen Uhr“ verrückt machen. Natürlich ist sie da. Irgendwann sind Frauen biologische Grenzen des Schwangerwerdens gesetzt. Sicher sinken die Chancen auf eine Schwangerschaft mit zunehmendem Alter. Doch Druck, der durch das Symbol einer tickenden Uhr im Hintergrund erzeugt wird, ist das, was du gerade überhaupt nicht gebrauchen kannst.

Die Zeit des unerfüllten Kinderwunsches ist nämlich auch eine Erfahrungszeit. Du erfährst, dass du einige Dinge in deinem Leben nicht erzwingen kannst. Du wirst schwanger – oder auch nicht. Du kannst auf natürlichem Weg schwanger werden – oder auch nicht. Bei dir funktioniert die künstliche Befruchtung – oder auch nicht. Dein Weg zu Kindern führt über Adoption oder Pflegschaft oder du bleibt lieber kinderlos.

Diese Erfahrungszeit ist auch eine Zeit großer Verunsicherung. Gerade wenn du in deinem Leben bisher alles erreicht hast, was du wolltest, kann diese Erfahrung dich aus deinem Gleichgewicht werfen. Gerade deshalb solltest du dir die Zeit nehmen, die du brauchst, um gut da durch zu kommen und das unabhängig von den Ratschlägen Außenstehender. Denn letztendlich ist es dein Leben und dein Körper, der mit allen eventuellen medizinischen Maßnahmen zurecht kommen muss.

 

Entscheide selbst über die Schritte, die du gehst

Gerade wenn dein unerfüllter Kinderwunsch über Jahre anhält, geben dir deine Mitmenschen vielleicht zu verstehen, dass du es besser sein lassen und auf Kinder verzichten solltest. Schließlich gebe es ja noch viele andere Dinge, um die du dich kümmern könntest. Oder dass du jetzt endlich den medizinischen Weg intensiver angehen solltest.

Solche Worte können verletzend und abwertend sein. Sie unterstellen, dass es einen Regelweg gibt, der zu absolvieren ist. Und dass du so, wie du unterwegs bist, nicht in Ordnung bist. Doch das stimmt so nicht. Gerade beim Kinderwunsch ist Trauer so präsent – mit jeder Regelblutung, jedem schlechten medizinischen Befund, jedem „Negativ“ nach einer künstlichen Befruchtung, jeder Fehlgeburt. Diese Trauer benötigt Zeit und Raum.

Ich wünsche dir deshalb, dass du dir die Zeit nimmst, die du für die einzelnen Schritte brauchst. Lass dich bitte auch nicht von deinem Partner oder Ärzten drängen. Es ist dein Körper, der eventuelle hormonelle Stimulationen über sich ergehen lassen muss, nicht ihrer. Lass dir die Entscheidungen über das, was du tust und was du tun möchtest, bitte nicht aus der Hand nehmen.

Bei jeder Maßnahme, egal welcher, solltest du zu 100% dahinterstehen und sie nicht nur jemand anderem zuliebe tun. Manchmal geht dieser Druck nicht (nur) von Ärzten oder vom Partner aus, sondern – teilweise unterschwellig – auch von Eltern oder Schwiegereltern, die sehnsüchtig auf ein Enkelkind warten. Gerade diesem Druck standzuhalten, kann sehr schwierig sein, bleiben wir doch zeitlebens die Kinder unserer Eltern, selbst wenn wir längst erwachsen sind.

Achte auf dich.

Du bist besser, als du (gerade) glaubst

Du bist besser, als du (gerade) glaubst

„Nicht mal das bekomme ich hin!“ Kennst du diesen Ausspruch von dir? Wenn wieder deine Regelblutung eingesetzt hat? Oder du „schon wieder“ eine Fehlgeburt hattest? Es gibt diese Momente in der Kinderwunschzeit und nicht nur dort. Du hast den Eindruck, dass gar nichts mehr geht. Egal, was du tust, es erscheint dir sinnlos, weil nicht das dabei herauskommt, was du dir wünschst.

So pauschal dieser Satz ist, so falsch ist er auch. Denn er impliziert, dass du gar nichts hinbekommst. Was so nicht stimmt. Immerhin bist du gerade in der Lage, diesen Satz zu sagen. Das ist schon mal mehr als nichts. Richtig ist eher, dass dir das, was du in diesem Moment versuchst, nämlich ein Kind zu bekommen, nicht gelingt. Und diese Situation ist einfach furchtbar. Vor allem wenn du den Eindruck hast, dass „jede(r)“ außer dir es schafft, schwanger zu werden.

Doch neben dem, was gerade gar nicht geht, gibt es jetzt genauso Dinge, die du schaffst. Vielleicht gelingt es dir trotz allem, morgens aufzustehen. Oder du bist in der Lage, zur Arbeit zu gehen. Oder dir jeden Tag etwas zu Essen zu machen. Gerade Routinetätigkeiten bekommen wir auch in schlechten Zeiten gut hin, weil wir über sie nicht nachdenken müssen. Sie laufen automatisch ab. Mit ihnen kannst du anfangen, auch wenn es gefühlt nur Kleinigkeiten sind. Suche sie dir. Sie können dir wieder Kraft geben. Denn du bist besser, als du (gerade) glaubst.

 

Pauschalurteile ziehen dich runter

Wer kennt sie nicht: die Pauschalurteile. Dicke Menschen sind faul. Alte Leute sind langsam, schwerhörig und lieben Volksmusik. Jugendliche sind laut und unhöflich. Doch wir treffen diese Urteile nicht nur über andere, sondern vor allem über uns selbst: „Nie bekomme ich was hin!“ „Immer fällt mir etwas runter!“ „Immer muss das mir passieren!“ oder eben „Nicht mal das bekomme ich hin!“ Gerade in der Kinderwunschzeit tauchen sie öfter auf, als dir vielleicht lieb ist.

Wenn du genau in dich hineinspürst, wirst du feststellen, dass trotz der Wut, mit der du diese Worte vielleicht herausschleuderst, sie dich in deinem Innersten hineinziehen in ein tiefes Loch. Aus ihm gibt es scheinbar kein Entrinnen. Du schlägst dich quasi selbst. Mit deinen eigenen Worten. Du wertest dich ab. Du sprichst dir jede Selbstwirksamkeit ab. Denn egal, was du tust, es funktioniert ja offensichtlich nicht.

Gerade wenn du seelisch angeschlagen bist, kannst du in diese Abwärtsspirale rutschen. Wenn dir dein unerfüllter Kinderwunsch die Lebensfreude nimmt. Wenn dich all die Schwangeren und Mütter mit Babys um dich herum gefühlt anklagen. Diese Momente zerren an deinem Selbstwertgefühl und deiner Selbstwirksamkeit. Du bist verunsichert und musst erst einmal mit dieser neuen Situation zu Rande kommen. Mit den Pauschalurteilen über dich versetzt du dir dann den nächsten Schlag.

 

Sie kommen aus deiner Kindheit

Doch woher kommen diese Sätze? Oftmals sind sie ein Überbleibsel deiner Erlebnisse in deiner Kindheit. Vielleicht von deinen Eltern, die zu dir meinten: „Lass mal, ich mach das. Das kriegst du sowieso nicht hin.“ Oder von einer Erzieherin mit der Aussage: „Ach die Anne. Der fällt immer alles runter.“ Oder von einem Lehrer, der lieblos sagte: „Schon wieder eine Vier. Etwas anderes hatte ich gar nicht von dir erwartet.“

All diese Sätze, vor allem wenn sie regelmäßig wiederholt und von liebevollen Erwachsenen nicht richtiggestellt wurden, sind dazu geeignet, dir später das Leben schwer zu machen. Eben dann, wenn es dir nicht gut geht. In guten Zeiten kannst du da vielleicht drüber stehen. Dann ist dir bewusst, dass diese Aussagen in ihrer Pauschalität so nicht stimmten. Dass du sogar ganz viel hinbekommen hast. Oder dir nicht alles heruntergefallen ist, sonst hätte es ja ständig gescheppert. Oder dass du in anderen Fächern richtig gut warst. Doch wenn es dir schlecht geht so wie jetzt, kommen die alten falschen Glaubenssätze gern wieder hoch.

Dann bekommt der innere Kritiker, den du sonst vielleicht so gut in Schach halten konntest, Oberwasser. Wie ein kleines Teufelchen sitzt er auf deiner Schulter und holt all die alten Pauschalurteile wieder hoch. Und weil du so angeschlagen bist, hast du ihm vermeintlich nichts entgegenzusetzen. Du bekommst eher den Eindruck, dass er recht hat. Dass du dir die ganze Zeit etwas vorgemacht hast. Dass die Menschen aus deiner Kindheit recht hatten.

 

Pauschalurteile sind pauschal falsch

Doch das stimmt so nicht. Pauschalurteile sind pauschal falsch. So wie es flotte Dicke und sportliche Alte gibt, so sind auch dir in deinem bisherigen Leben Dinge gut gelungen. Sonst wärst du heute nicht hier. Du hast vielleicht einen Schulabschluss gemacht und einen Beruf erlernt. Oder hast dir selbst das Kochen und Backen beigebracht. Vielleicht du bist in der Lage, einen Schrank zu bauen. Oder einen Garten zu gestalten.

Wenn dir Sätze mit „immer“, „nie“ oder ähnlichen verallgemeinernden Wörten begegnen, solltest du vorsichtig sein. Denn sie stimmen wahrscheinlich nicht. So wie es nicht „immer“ regnet oder „nie“ die Sonne scheint, so ist auch dein Leben eine Mischung aus guten und schlechten Tagen, Erfolgen und Niederlagen.

Sei dir bewusst, dass dir im Moment gerade etwas Bestimmtes nicht gelingt. Du bist gerade jetzt nicht schwanger oder hast gerade dein Kind verloren. Dieser Moment ist aber nicht dein ganzes Leben. Er ist nur ein Ausschnitt. Vielleicht wirst du irgendwann schwanger sein, vielleicht auch ein Kind bekommen. Vielleicht wird dein Leben aber auch ganz anders sein. Denn Schwanger werden und Kinder bekommen ist etwas, was wir nicht mit viel Leistung erzwingen können.

Entlarve die Lüge in deinem Satz

Wenn dir also so ein Satz rausrutscht, dann schau ihn dir am besten mal genau an. Frage dich, ob er stimmen kann. Wenn dein Satz also lautet: „Nicht einmal das bekomme ich hin!“, dann nimm ihn einfach auseinander. Denn er impliziert, dass du gar nichts hinbekommst. Weder Atmen, noch Essen oder Trinken, geschweige denn Aufstehen, Gehen oder Schlafen. Er kann also nicht stimmen.

Du könntest jetzt schauen, was du alles kannst. Zum Beispiel Atmen, Essen, Trinken, Aufstehen, Gehen oder Schlafen. Doch vermutlich noch vieles mehr. Du kannst auch schauen, was du heute schon alles hinbekommen hast. Vielleicht warst du mit dem Hund eine Runde draußen. Oder hast Essen gekocht. Vielleicht warst du – trotz, dass du emotional angeschlagen warst – Arbeiten. Oder hast es geschafft, den Müll rauszubringen. Meist findest du mehr, als du glaubst.

Du denkst, das ist ja gar nichts (schon wieder so eine Pauschalaussage). Doch, es ist eine ganze Menge. Denn jeder Schritt, den du bewusst gehst, bringt dich wieder aus deinem Tief heraus. Auch wenn es zunächst nur ein klitzekleines Bisschen ist. Jeder dieser Schritte zeigt dir, dass du etwas bewirken kannst. Dass dir deine Kinderlosigkeit im Moment vielleicht den Boden unter den Füßen wegzieht, aber du trotzdem etwas tun kannst. Wenn du das jeden Tag tust, vielleicht auch noch mehrmals, wirst du feststellen, dass du besser bist, als du glaubst. Vertraue auf dich.

Achte auf dich.

Ein Leben ohne Kind?

Ein Leben ohne Kind?

Ein Kind zu bekommen, gehört für die meisten Menschen zum Leben dazu. Doch was ist, wenn das nicht klappt? All die Liebe, die du deinem Kind geben wolltest, all das, was du für eure gemeinsame Zukunft geplant hattest, hängt dann in der Luft. Stattdessen ist da eine gewaltige Lücke, die nicht zu schließen ist. Dir diese Leerstelle bewusst zu machen, ist Teil des Trauerprozesses beim Abschied vom Kinderwunsch. Zu akzeptieren, dass sie da ist und schmerzt.

Diese Leerstelle stellt auch dich selbst in Frage. Wer bist du ohne dein Kind? Bist du noch eine Mutter, wenn du dein Kind verloren hast? Was macht dein Leben aus, wenn das, was du dir vorgestellt hattest, nicht eintreten wird? Welche Grundlage hat deine Partnerschaft, wenn aus ihr keine Kinder hervorgehen können?

Diese Frage kannst du nur für dich selbst beantworten. Lass dir dafür die Zeit, die du brauchst, auch wenn es Jahre dauert. Vielleicht macht es dir Angst, dich damit auseinander zu setzen. Das ist verständlich, ist doch vieles in deinem Leben nicht so, wie du es dir gewünscht hattest. Wenn du den Eindruck hast, das es allein für dich zu schwer ist, kannst du dir auch Unterstützung holen.

 

Der Kinderwunsch als Lebensinhalt

Es gibt viele Gründe, warum wir Kinder haben möchten. Die einen möchten gern etwas weitergeben an eine nachfolgende Generation. Für andere haben Kinder immer schon zum Leben dazu gehört. Es gibt auch Menschen, die hoffen, dass sich ihr Leben mit Kindern verbessert und lebenswerter ist. Für weitere sind Kinder der Inhalt ihres Daseins. Keiner dieser Gründe ist besser oder schlechter als der andere. Sie sind – auf ihre Art – alle in Ordnung.

Zunächst ist der Kinderwunsch meist nur ein Teil deines Lebens. Wenn sich dann jedoch keine Schwangerschaft einstellt oder diese nicht hält, rückt der unerfüllte Kinderwunsch oft immer mehr in den Mittelpunkt. Alles dreht sich dann vielleicht nur noch um fruchtbare Tage, gesunde Ernährung, Stressvermeidung oder ähnliches. Dein Leben richtet sich nach Arztterminen und Medikamenteneinnahme.

Doch was, wenn das alles nichts bringt? Wenn du trotzdem nicht schwanger wirst oder bleibst? Es gibt Frauen und Paare, die dann kein Ende finden können oder wollen. Vielleicht beim nächsten Mal? Denn was wäre die Alternative zum Weitermachen? Da bliebe nur das Aufhören und ein Leben ohne Kind(er). Für viele eine schreckliche Vorstellung. Denn wer bist du ohne ein Kind?

 

Ohne Kind bleibt eine Leerstelle

Die Frage, wer du ohne Kind bist, ist eine der am schwersten zu beantwortenden beim Abschied vom Kinderwunsch. Wir alle haben eine Vorstellung von unserem Leben. Für viele Menschen gehören Kinder dazu. Wenn diese Kinder dann nicht kommen, bleibt eine Leerstelle. Etwas fehlt. Diese Leere ist sehr schmerzhaft, manchmal nicht auszuhalten. Gerade wenn dir Schwangere oder Mütter mit Babys begegnen.

Natürlich kannst du versuchen, diese Leerstelle zu stopfen. Mit exzessiver Arbeit. Mit intensiven Freizeitaktivitäten wie Sport, Partys oder Shopping. Mit Alkohol oder anderen Drogen. Das kann eine Weile funktionieren. Aber sobald die Wirkung nachlässt, wird die Leere und Einsamkeit wieder da sein. Und gegebenenfalls nach neuer Betäubung verlangen. Das Weglaufen wird dir auf Dauer wahrscheinlich nicht helfen.

Alternativ kannst du innehalten und dir dieser Leerstelle bewusstwerden. Schon zu akzeptieren, dass sie da ist, kann ein erster Schritt sein. Sie zu sehen und anzuerkennen. Wahrnehmen, dass sie schmerzt. Vielleicht gelingt es dir, sie genauer zu betrachten. Wie sie aussieht, welche Form sie hat, wie sie sich anfühlt. Achte jedoch immer darauf, was du dir selbst in diesem Moment gerade zumuten kannst. Vielleicht ist es noch zu früh. Dann versuche es später noch einmal.

 

Wer bist du ohne (d)ein Kind?

Was es so schwer macht, diese Leerstelle auszuhalten, ist auch, dass sie dich und dein Leben in Frage stellt: Wer bist du jetzt, wenn du keine Kinder bekommen kannst? Seid ihr eine Familie oder „nur“ ein Paar? Was hält euch noch zusammen oder könnte sich dein Kinderwunsch mit einem anderen Partner doch noch erfüllen? All diese Fragen, egal ob ausgesprochen oder nicht, können eine Partnerschaft auf eine harte Probe stellen.

Auch der Verlust eines Kindes reißt solche Fragen auf. Bist du jetzt noch eine Mutter? Warst du es überhaupt, wenn dein Kind noch im Mutterleib verstorben bist? Du hast dich, solange es in dir und bei dir war, als Mutter gefühlt. Soll das jetzt einfach weg sein? Auch wenn ein Außenstehender dir sagt, dass du selbstverständlich noch Mutter bist – kannst du es fühlen und glauben? Oder kommt es dir falsch vor?

Diese Fragen sind meist sehr schmerzhaft. Doch es ist keine Alternative, sie sich nicht zu stellen, wenn sie nach oben drängen. Dann gären sie unter der Oberfläche und belasten dein Leben und deine Beziehung nur umso mehr. Sei aufrichtig zu dir, wenn du die Fragen beantwortest. Gerade, wenn unterschwellig ein Zweck mit der gewünschten Schwangerschaft verbunden war, wie die Festigung der Partnerschaft, bringt es nichts, dir weiter etwas vorzumachen.

 

Dein neues anderes Leben

Auf die Frage, wer du ohne Kind bist, gibt es keine allgemeingültige Antwort, nur deine eigene. Sie zu finden ist ein Prozess, keine Tages- oder Wochenaufgabe. Einige Antworten ergeben sich vielleicht mit der Zeit durch die Dinge, die dir in deinem weiteren Leben begegnen. Einige Antworten wirst du auch aktiv suchen müssen, weil sie dich sonst immer weiter belasten. Setze dich nicht unter Druck und lasse auch nicht zu, dass andere das tun. Du hast alle Zeit der Welt.

Achte darauf, dass deine Antworten für dich stimmig sind. Sie müssen nicht für andere passen, nur für dich. Denn wenn sie für dich nicht stimmig sind, dann helfen sie dir auf Dauer auch nicht weiter. Dann werden sie nur hohle Phrasen bleiben und die Leerstelle, die durch den unerfüllten Kinderwunsch entstanden ist, in deinem Leben nicht erträglicher werden lassen. Es kann auch sein, dass du zunächst Antworten findest, die sich später als nicht mehr zutreffend herausstellen. Dann ist es Zeit, sie neu zu überdenken und gegebenenfalls abzuändern.

Deine Antworten werden dir helfen, dein weiteres Leben zu gestalten. Es wird anders sein als vorher, wenn sich nicht mehr alles um das Schwanger werden dreht. Narben werden bleiben. Wie bei allen Verwundungen, die du erleidest. Vielleicht bleiben sie sichtbar, vielleicht machen sie sich aber auch nur ab und zu bemerkbar. Achte auf dich und hol dir Unterstützung, wenn du den Eindruck hast, sie zu benötigen. Du musst dich dafür nicht schämen.

Achte auf dich.