Heute möchte ich dich zu einem Perspektivwechsel einladen. Jeder Verlust und jedes Unglück in deinem Leben, egal, wie schlimm sie sind, ermöglichen dir auch eine Neuorientierung oder Weiterentwicklung. Auch beim unerfüllten Kinderwunsch ist das so. Irgendwann kommt vielleicht der Punkt, an dem du erkennen musst, dass du nie ein Kind haben wirst. Du kannst dein Leben dann nicht mehr auf dieses Ziel ausrichten.

Oftmals ist gerade auch in der Kinderwunschzeit unser Blick sehr eingeengt. Wir sehen nur das Schlimme: das Kind, das wir nicht haben können. Wir merken an allen Ecken und Enden, das es fehlt. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, in der wir daran erinnert werden, was wir nicht haben, zieht es uns tiefer nach unten. Wir wollen, dass der Schmerz und die Verzweiflung darüber weggehen. Doch das tun sie nicht. Sie bohren weiter, so dass es uns immer schlechter geht und wir nicht mehr wissen, wie wir aus dieser Abwärtsspirale herauskommen.

Hier kann ein Perspektivwechsel helfen. Du kannst dich fragen, welche Chancen sich für dich aus der veränderten Situation ergeben. Das mag sich im ersten Moment erschreckend anhören, weil das impliziert, dass du dich daran freuen könntest, dass du kein Kind bekommst. Doch das ist nicht der Sinn des Perspektivwechsels. Eher geht es um die Entdeckung der Dinge, die daneben noch in deinem Leben stattfinden könnten. Die Antworten auf diese Fragen lassen deine Trauer um deinen unerfüllten Kinderwunsch nicht verschwinden, aber sie können Räume für dich öffnen, um dein Leben während und nach der Kinderwunschzeit neu zu gestalten.

 

Der Tunnelblick in der Kinderwunschzeit

Ein unerfüllter Kinderwunsch hat die Tendenz, uns aus unserem gewohnten Leben zu reißen. Er zieht uns oftmals in eine Abwärtsspirale negativer Gefühle. Schmerz, Ohnmacht, Hilflosigkeit, Verzweiflung – alles legt sich übereinander und beschwert uns. Wir fühlen uns schwach und unfähig. Die Gedanken drehen sich im Kreis. Unser Blick wird zum Tunnelblick. Er schränkt uns ein. Wir sehen vielmals nur das, was wir nicht haben können.

Wenn du tief im (erfolglosen) Kinderwunschprozess bist, laufen dir ständig glückliche, schwangere Frauen oder Mütter mit Babys und Kleinkindern über den Weg. Sie alle haben, was du nicht hast, und das tut weh. Dieser Schmerz zieht dich weiter nach unten. Immer wieder zeigt er dir, was du nicht hast, nicht kannst, nicht schaffst. Dein Selbstwertgefühl befindet sich im Sturzflug, den scheinbar nichts aufhalten kann.

Dazu kommt das Gedankenkarussell. Warum ich? Warum passiert das mir? Wieso klappt es bei mir nicht? Ich mache doch schon alles dafür. Ich ernähre mich gesund, mache Sport usw. usf. Alles kreiselt wie wild durcheinander und immer wieder um die selben Themen. Du willst es stoppen, doch irgendwie klappt es nicht. Vielleicht kurzfristig, aber nicht auf Dauer. Gerade, wenn du allein mit dir und deinen Gedanken bist, kommen sie hoch.

 

Ein Perspektivwechsel als Gegenstück zur Abwärtsspirale

Um aus dieser Ohnmacht und Handlungsunfähigkeit herauszukommen, kann dir ein Perspektivwechsel helfen. Perspektivwechsel heißt zu überlegen, welche Möglichkeiten sich für dich aus dieser veränderten, ungewünschten Situation ergeben. Denn jede Situation hat immer zwei Seiten, auch in guten Zeiten. Wenn du zum Beispiel einen neuen, interessanten Job in einer fremden Stadt annimmst, lässt du dein bisheriges vertrautes Umfeld zurück.

Genauso ist es in schlechten Zeiten wie beim unerfüllten Kinderwunsch. Auch hier gibt es – auch wenn dies auf den ersten Blick nicht immer erkennbar ist –eine andere Seite. Es ergeben sich neue Möglichkeiten. Das heißt nicht, dass du dich über das, was passiert ist, freuen sollst. Ein unerfüllter Kinderwunsch bleibt ein unerfüllter Kinderwunsch und du darfst solange und so tief darum trauern, wie du es brauchst. Trotzdem möchte ich dich einladen, dich zu fragen, welche Chancen sich daraus, dass dein Kinderwunsch sich nicht erfüllt hat, für dich ergeben.

Wenn du zum Beispiel viele Termine in einer Kinderwunschklinik hattest, die deinen Terminplan bestimmt haben, so kann dir eine Pause in oder die Beendigung der Behandlungen die Möglichkeit geben, etwas Neues zu beginnen. Du musst nicht mehr schauen, ob deine Ideen gerade mit den fruchtbaren Tagen passen. Diese dir jetzt zur Verfügung stehende Zeit kannst du für die Dinge nutzen, die bislang liegen geblieben sind oder die du dir nicht erlaubt hast, weil du vielleicht auf keinen Fall eine Möglichkeit zur Schwangerschaft verpassen wolltest.

Eine weitere aus meiner Sicht wichtige Frage ist diejenige danach, was du aus der Situation, in der du dich befindest, lernen kannst. Vielleicht gibt dir der unerfüllte Kinderwunsch die Möglichkeit darüber nachzudenken, ob dein Leistungs- und Perfektionsanspruch jetzt noch zu deinem Leben passt. Denn gerade das Schwangerwerden hat nichts mit Leistung oder Belohnung zu tun. Ansonsten würde es nicht bei so vielen Frauen nicht klappen, obwohl sie alles für eine Schwangerschaft und ein Kind tun.

 

Dinge, an denen du wachsen kannst

Wenn du noch einen Schritt weiter gehen möchtest, kannst du überlegen, was du noch nie in deinem Leben gemacht hast. Bestimmt finden sich Dinge, die du – aus welchen Gründen auch immer – noch nie getan hast. Vielleicht, weil du bislang keine Zeit dafür hattest. Vielleicht, weil du dich bisher vor ihnen gescheut hast. Oder weil du glaubtest, das könntest du sowieso nicht. Womöglich sind sie dir aber auch einfach noch nie in den Sinn gekommen.

Premieren geben uns die Möglichkeit zu wachsen, unser Leben auch in schlechten Tagen neu zu entdecken. Vielleicht warst du noch nie am Meer. Dann wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, dorthin zu reisen. Vielleicht hast du noch nie ein Instrument gelernt. Dann fange jetzt damit an. Schick den inneren Schweinehund in die Ferien, der dir sagt, dass du gerade jetzt dafür keine Zeit hast und das Ganze sowieso keinen Sinn hat.

Dabei spielt es keine Rolle, ob du für all diese Dinge Talent hast. Talent wird oftmals überbewertet. Die meisten Dinge lernen wir nicht durch Talent, sondern durch Ausprobieren und Fleiß. Wenn du nicht ausdauernd übst, wird selbst mit dem größten Talent aus dir kein Klaviervirtuose. Außerdem erwartet niemand von dir, dass du zum Beispiel mit 43 Jahren bei „Jugend musiziert“ noch Preisträger wirst. Aber vielleicht stellst du ja überrascht fest, dass es dir Spaß macht zu musizieren.

 

Ein Brainstorming zur Ideenfindung

Dir fällt nichts ein? Dann nimm dir einfach ein Blatt Papier und einen Stift. Schreibe ganz oben: „Ich habe/bin noch nie …“. Stell dir einen Wecker auf zehn Minuten und schreibe in einfach drauf los, was dir in den Sinn kommt. Frage nicht danach, ob das, was du aufgeschrieben hast, überhaupt realisierbar oder sinnvoll ist. Fällt dir gerade gar nichts ein, dann ziehe einfach eine Wellenlinie. Setze den Stift möglichst nicht ab. Schreibe solange, bis die Zeit abgelaufen ist.

Wenn die Zeit um ist, lies dir dein Geschriebenes durch. Welche Punkte springen dich an? Was davon ist vielleicht sogar kurzfristig und ohne viele Umstände umsetzbar? Dieses unbewusste Schreiben bringt oftmals unsere Wünsche und Gedanken besser zum Ausdruck, als wenn wir lange darüber grübeln und ständig das Für und Wider abwägen. Beim unbewussten Schreiben hat der innere Kritiker Sendepause, so dass wir ganz bei uns sind.

Und was ist mit den Wünschen, die überhaupt nicht realisierbar sind, zum Beispiel ein Flug zum Mars? Dann koch dir einfach eine schöne Tasse Tee oder Kaffee und stell dir vor, wie es wäre, wenn du diesen Wunsch realisieren könntest. Du kannst dir diese Reise in allen Facetten ausmalen, mit allen Geräuschen, Gerüchen, Lauten und Empfindungen. Auch Träume können glücklich machen und dir Entlastung bringen.

Achte auf dich.